Piz Tschierva (3545 m) Berninagruppe

Mächtiges Bollwerk über dem Rosegtal

Tschierva heißt rätoromanisch Hirsch, was genau an diesem Berg den Vergleich mit einem Hirsch herbeiführt lässt sich aber schwer sagen. Auf jeden Fall ist der Piz Tschierva der höchste Gipfel in diesem Buch, sodass verhältnismäßig lange Gletscherstrecken überwunden werden müssen. Allzu zerschrundet sind diese zwar nicht, Seil, Pickel und Steigeisen sollten aber auf jeden Fall ins Tourengepäck gehören. In ganz Graubünden gibt es außerhalb der Berninagruppe keinen einzigen Berg, der auch nur annähernd seine Höhe erreicht, trotzdem gehört der Piz Tschierva nicht zu den begehrten Zielen dieses Kantons.

Piz Tschierva und Morteratsch

Diese Tatsache dürfte vor allem mit seiner Lage vor den ganz großen Berninabergen zu begründen sein, obwohl er eigentlich der erste wirklich hohe Berg der Gruppe ist. Entsprechend interessant wirkt er in Aussicht und Ansicht. Roseg, Biancograt und Piz Morteratsch direkt vor Augen, dazu ein weiter Blick über ganz Graubünden und herrliche Tiefblicke ins Oberengadin. Gewaltig und unnahbar wirkt der Berg von der Furcla Surlej aus, und doch ist er trotz interessanter Gletschereinblicke recht einfach zu ersteigen. Trotzdem wird seine Besteigung höchstens als Eingehtour für Piz Roseg oder den Biancograt durchgeführt, allenfalls noch als Zugabe nach dem Piz Morteratsch. Allerdings erst als ich diese Kombination vormachte entschieden sich zwei weitere Seilschaften dafür, auch diesen Gipfel noch zu besteigen. So kann man also noch allein sein, mittendrin in der vielbesuchten Eiswelt der Berninagruppe. Zwei günstig gelegene Hütten stehen auch zur Verfügung, wobei ich die Bovalhütte nicht mehr betrete, seid mir im Sommer 2000 die Übernachtung verwehrt wurde, nur weil ich mich nicht vorher angemeldet hatte. Ich hoffe der Hüttenwirt hat inzwischen gewechselt, und mehr Verstand im Kopf als stark übertriebenes konservatives Gedankengut. Auch ist der Weg von der Bovalhütte deutlich steiler und schwieriger, bietet sich aber an, wenn vor dem Hüttenaufstieg noch Piz Misaun, Piz Chalchagn oder Piz Boval bestiegen werden sollen. Für eine Kombination mit dem Biancograt oder Piz Roseg bietet die Tschiervahütte den besten Ausgangspunkt, beim Piz Morteratsch sind wie beim Piz Tschierva beide Hütten geeignet.

Da beide Hütten von Superlativen umgeben, und damit auch entsprechend beliebt, sind sollten wenn eben möglich die Wochenenden gemieden werden, es droht Überfüllung. Kein Wunder befindet sich doch in der Berninagruppe mit dem Piz Bernina (4054 m) der einzige Viertausender der kompletten Ostalpen, dazu mit dem Silberschloss des Piz Palü einer der schönsten Alpenberge überhaupt. Dazu kommen über 70 weitere Dreitausender und mit der Corvatschbahn auf immerhin 3300 Meter Höhe die höchstgelegene Bergbahnstation Graubündens. Im Umland erstrecken sich die bei Surfern und anderen Wassersportlern so beliebten Oberengadiner Seen. Durch den kanalisierten Malojawind herrschen auf dem Silser See, dem Silvaplanasee und dem St. Moritzersee fast immer ideale Windverhältnisse vor. Mit St. Moritz befindet sich im Tal der teuerste Ferienort Europas, Schauspieler, Politiker und Topsportler aus aller Herren Länder geben sich hier die Klinke in die Hand. Die anderen, kleineren Orte, allen voran die Bergsteigermetropole Pontresina stehen dem Hauptort preislich nicht viel nach, sodass erst ab Samedan wieder für den Normalbürger bezahlbare Unterkünfte anzutreffen sind. Viele Maler, Dichter und andere Künstler siedelten sich hier an, vor allem Segantini hat vielerorts Spuren hinterlassen. Kein Wunder, wird doch die Luft mit Champagner verglichen, gar nicht mal unwahrscheinlich, bei der Masse an Prominenz, das der hohe Champagnergehalt mittlerweile sogar die Atemluft beeinflusst. Von all dem Trubel sind wir aber auf dem Piz Tschierva abgeschirmt, ja blicken sogar mit völlig leerem Portemonnaie darauf herab.

 

Der Wegverlauf:

Von der Tschiervahütte:

Von Pontresina aus gilt es zuerst eine fast ebene Strecke von ca. 6-7 Kilometern zu überwinden bis auf knapp 2000 Metern Höhe das Hotel Roseg erreicht ist. Bis hierher kann, wer möchte auch für 16 Franken mit der Kutsche hinauffahren. Sicherlich ein beeindruckendes Erlebnis, wobei zusätzlich noch Kraft gespart wird. Dann aber ist es vorbei mit dem Kraftsparen, 600 Höhenmeter müssen auf dem nun steiler werdenden Steig bis zur Hütte überwunden werden. Vielkehrig geht es aufwärts, 2-3 Stunden sollte man vom Hotel schon einplanen. Am anderen Morgen zeigen zunächst Steigspuren und auf Steine geschriebene Hinweise den richtigen Weg an. Wenige Meter hinter der Hütte biegt der Pfad links ab und führt in steilen Serpentinen über ein Schuttfeld bis zum ersten Hindernis, einer Stufe aus vom Gletscherrückgang glatt geschliffenem Granit. Mit Hilfe von Ketten und einer Leiter lässt sich diese Felsstufe aber doch recht einfach überwinden. Weiter oben ist der Pfad nicht immer leicht zu finden, aber die glatten, mit Schutt durchsetzten Granitstufen sind von geringer Steilheit und erlauben eigentlich überall einen Durchgang. Bald kommt dann auch der Gletscherrand in Sicht. Hier hat man die Wahl zwischen zwei Routen. Wer den Gletscher vermeiden möchte hält sich Nordwestlich (links) auf eine große Geröllhalde auf ca. 3000 Metern Höhe zu. Nun geht es mehr oder weniger gerade über rötliche und leichte Felsen zum Gipfel. Die Gefahr den richtigen Weg zu verlieren besteht nicht, denn man kann fast überall durchkommen. Schöner aber ist der weitere Anstieg über den Tschiervagletscher, welcher nur eine mäßige Spaltengefahr aufweist und fast immer gespurt ist. In weitem Rechtsbogen folgen wir der Spur bis zur Furcla Boval (3347 m). Von hier aus haben wir nun die Möglichkeit auch noch den Piz Morteratsch über seinen nordseitigen Gletscherrücken zu besteigen. 400 Höhenmeter zusätzlich, gewürzt mit einer 45 bis 50 Grat steilen Eispassage trennen uns noch vom Punkt 3751, der Biancograt Aussichtsterrasse schlechthin. Jetzt aber weiter zum Piz Tschierva. Eine Spur führt nach Links (Osten) über Gletscherflächen auf einen felsigen Grat zu. Den Grat gewinnen wir über Schutt und leichte Blöcke, folgen ihm einige Zeit, bis neben uns auf gleicher Höhe die sanft geneigte Firnfläche des Ostgrates auftaucht. Je nach persönlichen Vorlieben können dann die letzten 200 Höhenmeter auf dem verfirnten Ostgrat oder etwas links davon auf einer Schuttrampe bewältigt werden. Vom unscheinbaren Gipfel blickt man direkt ins Val Roseg hinab und auf den zerklüfteten Bovalgetscher. Weit geht der Blick an klaren Tagen, Ötztaler Apen, Ortlergruppe, Walliser und Berner Alpen zeigen sich am Horizont. Besonders Eindrucksvoll sind aber die Nahblicke auf Piz Roseg, Bernina, Morteratsch und ins Bergell. Auch die anderen Größen Graubündens wie Piz Kesch , Linard, Ela, Platta oder Fluchthorn geben sich aus ungewohnter Perspektive zu erkennen.

Abgestiegen kann nun auch über die Bovalseite werden, wobei wir zuerst am Aufstiegsweg bis zur Furcla Boval zurückkehren. Die tiefste Gratstelle markiert den Übergang, wo wir plötzlich vor einer fast senkrechten Felswand stehen. Doch alles sieht schwieriger aus als es ist, rote Punkte markieren den besten Weg, welcher nirgends den 2. Schwierigkeitsgrat überschreitet. Unten geht es dann über Schneefelder und einen steilen Geröllpfad, am Schluss über Rasenflächen, innerhalb einer halben Stunde zur Hütte. Nach einer kurzen Rast schließt sich dann noch der etwa 6 Kilometer lange Hüttenweg zur Bahnstation Morteratsch an, wo sich auch ein Parkplatz befindet.

Talort: Pontresina (1805 m)

Ausgangspunkt: Pontresina für die Tschiervaseite, Station Morteratsch ( 1896 m ) für die Bovalseite

Zeiten: Pontresina-Tschiervahütte: 3 St. , Abstieg 2 St. , Tschiervahütte-Piz Tschierva: 3 St. , Abstieg 2 St.

Furcla Boval-Piz Morteratsch: 1,5 St. , Abstieg: 0.5 St. , Morteratsch-Bovalhütte: 2 St. , Abstieg 1,5 St. , Bovalhütte-Piz Tschierva: 3 St. , Abstieg 2 St.

Höhenunterschiede: Pontresina-Tschiervahütte: 800 Hm. ; Tschiervahütte-Piz Tschierva: 1000 Hm. ; Furcla Boval-Piz Morteratsch: 400 Hm. ; Morteratsch-Bovalhütte: 600 Hm. ; Bovalhütte-Piz Tschierva: 1100 Hm.

Schwierigkeiten: Gletscherüberschreitung, Kletterei leicht, von Bovalseite mäßig schwierig, große Höhe

Stützpunkte: Bovalhütte (2495 m), tel.: 081/8427848 ; Tschiervahütte (2583 m), tel.: 081/8427188

Übernachtungsmöglichkeiten im Talort: Pontresina: Pros da God, tel.: 055/2404720 ; Samedan: Ferienhaus Lenzburg, tel.: 062/8914521

ÖPNV-Verbindungen: Pontresina und die Station Morteratsch liegen direkt an der Linie Chur-Tirano